Wie Kinder denken

Wie Kinder denken

Ich sag nicht, dass ich schon 5 bin.

Wie Kinder lügen lernen

„Oma, warum hast du so viele Streifen im Gesicht?“ Kindermund! Ohje, die vierjährige Jara hat etwas bemerkt, das Erwachsene nicht aussprechen würden. Wir haben uns in diesem Teil der Welt und in dieser Epoche darauf geeinigt, dass man Zeichen des Alterns nicht offen anspricht, weil Altsein heutzutage eher negativ gesehen wird. Die kleine Jara weiß das noch nicht. Wir vergeben ihr das Unwissen und nehmen es zugleich als Zeichen ihrer Unschuld wahr – auch wenn die Oma sich bewusst wird, dass schon die Vierjährige ihr Altern erkennen kann.

Sollen Kinder in diesem Zustand der Unschuld verbleiben? Würden sie dann später ihr Gegenüber beleidigen? Würde man auch einer Zehnjährigen noch zugestehen, dass sie das Alterstabu der modernen Zeit brechen darf? Wahrscheinlich nicht. Erwachsene wissen intuitiv, dass Zehnjährige sich in die Perspektive der Oma hinein versetzen können. Zehnjährige wissen, dass jung und fit als positiv bewertet wird und dass Oma sich ausgegrenzt fühlt, wenn man offen ausspricht, dass sie Zeichen des Alters im Gesicht trägt.

Die Ehrlichkeit der Kleinen hat also einen Preis, den andere zahlen. In diesem Fall die Oma der heutigen Zeit. Wenn die Kleinen nun lernen, sich in die Perspektive des Anderen zu versetzen, erwerben sie eine Fähigkeit, die ihnen hilft, Tabus zu beachten und andere nicht zu verletzen. Das ist das Positive am geistigen Wachstum der Kinder.

Die Fähigkeit des Perspektivwechsels hat aber auch eine dunkle Seite. Dazu eine kleine Anekdote: Als ich fünf Jahre alt war, nahm meine Mutter mich auf einer Zugreise mit. Sie hatte nicht viel Geld und wollte mich wie bis zu meinem fünften Geburtstag kostenlos mitnehmen. Sie sagte, „wenn der Schaffner kommt und fragt, ob du schon fünf bist, dann sagst du ‚nein’!“ Ich wollte meiner Mutter helfen, und als der Schaffner kam, sagte ich, „ich sag aber nicht, dass ich schon fünf bin.“ Ich hatte offenbar keine Vorstellung vom Perspektivwechsel, und mir gelang die Notlüge nicht. Der Schaffner hatte trotzdem Mitleid mit der jungen Mutter und spielte das Spiel mit. „Dann kannst du ja noch umsonst fahren.“

Die junge Mutter lernte, dass man sich nicht auf das Lügen-Geschick von Fünfjährigen verlassen kann. Und der Fall verdeutlicht zugleich die dunkle Seite der Fähigkeit zum Perspektivwechsel. Wenn wir diese Fähigkeit erwerben, haben wir damit auch die Grundlage des Lügens erworben und damit ein Stück unserer Unschuld verloren.

Lügen basiert also auf einer geistigen Fähigkeit, nämlich der Fähigkeit, die Perspektive des Anderen einzunehmen. Kein anderes Tier schafft das in dem Maß wie wir Menschen. So gesehen, ist das Lügenlernen ein Schritt in der menschlichen Reifung.

Wenn man zum ersten mal hört oder liest, dass Lügen eine Fähigkeit ist, sträuben sich einem vermutlich die Nackenhaare. Normalerweise denkt man beim Lügen doch eher an die Moral: „Du sollst nicht lügen.“ So oder ähnlich erinnern sich viele an das achte Gebot, auch wenn die vollständige Geschichte wohl etwas komplexer ist. Lügen wird erst einmal als etwas Böses betrachtet. Man denkt diffus daran, dass das Lügen seinen Ursprung im Bösen hat. Die Fähigkeit zu lügen hat aber ihren Ursprung in der Entwicklung des kindlichen Denkens. Erst wenn Kinder in der Lage sind, die Sicht des anderen einzunehmen, können sie Tatsachen falsch darstellen, ohne dabei sofort ertappt zu werden – und Tabus nicht zu brechen. Wieviel Lügen oder Verschweigen als gut oder schlecht bewertet wird, muss das Kind in der Welt heraus finden, in der es lebt.

Wer hat die Blätter so schön bunt gemacht?

Wie Kinder Schönheit erkennen

Als ich sechs war, kam ich auf dem Heimweg von der Schule an der ganzen Welt vorbei. Bäume, Wiesen und Felder. Das Beste aber kam ganz zum Schluss. Das letzte Stück des Weges führte an einer Schonung vorbei. Ich weiß noch wie sie eingezäunt wurde. Gespaltene Stämme, unten Schwarz angemalt, wurden in den Boden geschlagen, und der der Unimog von Magirus Deutz zog mit einer Winde Drähte knall-stramm an den Pfählen fest. Ich wusste noch nicht, dass der Zaun die Rehe daran hindern sollte, die jungen Triebe der Pflanzen zu fressen, die sich hier selbst aussäen würden.

Und so lief ich an einem Herbsttag die Landstraße entlang bis zum Rübenfeld, um von dort auf dem Trampelpfad zu unserem Haus zu gehen. Kaum auf dem Pfad kam die Schonung in mein Blickfeld. Verwundert bleib ich stehen. Sie hatte sich verwandelt. Wo sich vorher kleine Bäumchen und Sträucher breit machten, ihre zarten Äste dem Himmel entgegenstreckten, waren plötzlich bunt bemalte Blätter in vielen grellen Farben und unbekannten Formen. In der Herbstsonne strahlte ein mächtiges und wildes Gemälde von Rot, Gelb und Spuren von Grün so weit das Auge reichte.

Das bisschen Zaun war für den Sechsjährigen kein Hindernis, eher eine Einladung, hindurch zu schlüpfen. Ich war berauscht von den Farben und Formen, blickte mich um. Ein Blatt greller und größer als das andere. Mit roten, brennende Rändern und feinen Linien vom Stengl bis zum Rand, gelb und grün dazwischen. Wer hatte all die Farbe aufgetragen? Wie ich alles um mich betrachtete, stieg in mir ein Gefühl von tiefem Wohlsein auf, das sanft aus dem Inneren kam und den ganzen Körper erfüllte. So wie man sich fühlt, wenn man von dem besten Menschen der Welt geliebt wird. Das Konzert von Farben und Formen drang tief in mich ein, und ich wollte etwas davon mitnehmen und es mit jemandem teilen.

Ich kam mit einiger Verspätung und einem Strauß bunter Blätter in die Küche und sagte zu meiner Mutter: „Für dich. Sind sie nicht wunderschön?“ Und wieder floss Wärme durch mich hindurch. Von den bunten Blättern und dem sanften Lächeln auf dem Gesicht meiner Mutter.

Das ist eines der Geheimnisse der Kindheit. Woher wusste mein sechsjähriges Ich, dass es Schönheit gibt? Wie hatte es sie erkannt? Natürlich gibt es ja das Gefühl des Hingezogenseins. Ein helles Licht, ein süßer Geruch. Der Hund und die Wurst. Aber das ist instinktiv. Auch Babys schauen das Rässelchen an. Sie wissen aber nicht, dass es ein Rässelchen ist, dass es überhaupt Rässelchen gibt und dass es sie selbst gibt.

Der Sechsjährige konnte aber benennen, was er schön fand. Und es waren Dinge, die er vorher nie bewusst wahrgenommen hatte. Er war sich bewusst, dass die Blätter ihre Farbe gewechselt hatten, dass sie eine andere farbliche Struktur aufwiesen und dass er beim Betrachten ein tiefes Gefühl von Wohlsein empfand. Und er war in der Lage, diese Empfindung zu benennen.

All diese Fähigkeiten zeichnen den Menschen aus. Er kann sich seiner Empfindungen bewusst werden und sie benennen. Wir Erwachsenen tun all dies so selbstverständlich wie wir atmen, und es kommt uns fast magisch vor, wie Kinder oft urplötzlich mit diesen Fähigkeiten aufwarten. Diese Momente verzaubern uns. Sie sind zugleich Meilensteine in der Entwicklung des Kindes hin zu einem reiferen menschlichen Wesen.

Dann gibt’s morgen nur ein Ei.

Wie funktionieren Tiere?

Ben ist drei und interessiert sich für alles, was sich bewegt. Egal ob Würmer, Vögel oder Asseln.

Seine Theorie:

Würmer: „Da kommt vorne Erde rein und hinten wieder raus.“

Kühe: „Da kommt Grass rein und Milch raus“.

Hühner: „Die picken Körner, und hinten kommt ein Ei raus.“


Neulich war es sehr heiß. Auf der Fahrt nach Hause sahen wir vom Auto aus eine Hühnerfarm. Fast alle Tiere lagen am Boden.

Ben: „Die sind ganz schlapp. Nur einer pickt Körner. Oh, dann gib’s morgen nur ein Ei.“

In seiner Welt verwandeln sich offenbar die Körner im Huhn sehr schnell in jeweils genau ein Ei pro Huhn.

Irgendwie mutet die Kinderwelt fremd an. Wenn wir Erwachsenen ehrlich sind, belächeln wir die kindlichen Theorien über die Welt. Aber wir können sie auch nicht immer im Detail erklären.

Ben beobachtet, dass bei allen Tieren etwas hinein und etwas heraus kommt. Der Dreijährige sortiert die Welt offenbar nach Prinzipien und nimmt bald wahr, dass auch bei ihm etwas hinein und etwas heraus kommt. Daher kommt er bald selbst auf die Frage, ob Menschen auch Tiere sind und ist völlig zufrieden mit der Antwort „ja“. Zum Glück kannten wir die Antwort, auch wenn viele Menschen ihrer Spezies eine Sonderstellung zuschreiben.